Wenn Adele über einen Künstler wie Bon Iver sagt, seine Musik gehöre zu ihren wahren Lieben des Lebens, kann man das Statement entweder vernachlässigen oder sich seiner Aussagekraft bewusst werden.
Bon Ivers Musik hatte bei Adele einen so immensen emotionalen Impact, dass sie ihre Liebe zu dieser Musik mit der Liebe zu ihrem Sohn gleichstellt. Dasselbe Kind, für dessen Wohl sie ihre musikalische Karriere auf Eis legt. Das mag alles völlig übertrieben interpretiert sein. Aber ich halte an dieser romantischen Vorstellung fest. Denn bei mir nimmt die Liebe zu dieser Musik ähnliche emotionale Ausmasse an.
Genau wie Adele halte auch ich «22, A Million» von Bon Iver, der Band rund um Mastermind Justin Vernon, für das beste Album 2016. Das dritte Studio-Album der Amerikaner ist gewaltig, zeitlos und modern, verschlüsselt und konfus. Mit Symbolik gespickt, manchmal unverständlich und doch – auf einer tiefen Ebene – glasklar.
Auf den beiden Vorgängern landeten Bon Iver Welt-Hits mit «Skinny Love» oder «Holocene», doch das neue Album beruft sich keineswegs auf seine alten Erfolgsformeln. Es möchte anders sein und schafft es auch. Es ist die Befreiung einer geplagten und verfolgten Seele.
Die Texte auf «22, A Million» wirken wie zufällige aneinandergereihte Gedankenstränge. Doch haben sie eine gemeinsame Linie: Die innere Erlösung nach einer langen Suche zu sich selbst, zwischen grossen Themen wie Religion und Zugehörigkeit.
Musikalisch setzt das Album nicht exakt da an, wo der Vorgänger aufgehört hat – die Singer/Songwriter-Anfänge sind jedoch nicht zu überhören. Was das Album musikalisch so abgrenzt und weshalb es vielleicht damit seiner Zeit voraus ist, sind die verspielten, experimentierfreudigen und teils extremen Gesangseffekte. Seine Stimme komplett verändern und digitalisieren und trotzdem solche Gefühle rüberbringen, kann nur einer: Justin Vernon.
Pierfrancesco Monteleone