TOCOTRONIC – Die Unendlichkeit

Den Trainingsjacken sind Tocotronic schon längst entwachsen. Nun veröffentlichen die Hamburger mit „Die Unendlichkeit“ gar ein autobiographisches Konzeptalbum. Musikalisch facettenreich und lyrisch ungewohnt konkret beginnt dieses mit der Kindheit.

Spannt den Bogen über die Adoleszenz bis zur Gegenwart und wagt zum Schluss gar einen Blick in die Zukunft. Das geht ans Herz. Nicht wenige Fans und Kritiker warfen Tocotronic in jüngerer Vergangenheit eine gewisse Affektiertheit, ja gar elitäres Gehabe vor. Der Eindruck konnte zwar entstehen. Aber viel eher war das die logische Entwicklung einer Band. Tocotronic hatte schon immer einen gewissen Hang zur Kopflastigkeit und deren einst prägnante, von Schrammelgitarren begleitete Parolen sich mehr und mehr in Richtung abstrakt verworrenen Diskurspop entwickelte.

Der nun auf „Die Unendlichkeit“ eingeschlagene Weg zeichnete sich bereits beim letzten, unbetitelten Werk („Das rote Album“) ab: ein thematisch roter Faden und deutlich weniger kryptische Lyrics als in den Jahren zuvor. So persönlich wie auf der neuen LP wurde es jedoch noch nie.

Immer wieder kehrt Dirk von Lowtzow sein Innerstes nach aussen: „Bin ich was, das du nicht kennst, dass du mich Schwuchtel nennst?“ singt er etwa im „Hey Du“ (an „Hey Jane“ von Spiritualized erinnernden), welches das Unverstanden sein des Teenagers in der Badischen Provinz thematisiert. „Electric guitar“ ist eine wunderbare Ode an ebendiese einerseits und eine weitere Auseinandersetzung mit dem Grosswerden in der Enge des Reihenhauses andererseits.

Schliesslich entkommt von Lowtzow im Song „1993“ dann aber der „Schwarzwaldhölle“ und landet in Hamburg – wo die Dinge bekanntlich ihren erfolgreichen Lauf nahmen. „Die Unendlichkeit“ ist wohl die tiefgründigste, musikalisch vielschichtigste und ungewohnteste Tocotronic-Platte bisher und das ist gut so: Sie gibt der Band die Relevanz zurück, die sie zwischenzeitlich zu verlieren drohte.

Wie gut sich das alles in den Katalog der Band einfügen lässt, wird auf der anstehenden Konzertreise zu erleben sein. Diese führt die Hanseaten am 9. April auch nach Zürich ins X-TRA. Hingehen und 25 Jahre Bandgeschichte feiern ist dringend empfohlen!

8/10

LIVE: 9.4.18 im X-tra, Zürich

Kaspar Hunziker