Gälte es spontan drei bekannte Zürcher Rapper aufzuzählen, kämen wohl E.K.R, Skor und Tinguely Dä Chnächt in den Sinn. Letzterer hat mit «Calvados» ein Album herausgegeben, das vor Limmatstadt-Lokalesprit und -Lebenserfahrung nur so sprüht. Doch wie funktioniert das ausserhalb von Tsüri?
Gestatten: gemeiner Luzerner. Unsere Leuchtenstadt ist ein Dorf. Kein Vergleich zur Limmatstadt. An das Langstrasse-Nachtleben, die 24h-Shops oder täglich mehrere Konzerte in den zahlreichen Zürcher Venues kommt Luzern lange nicht ran. Immerhin: Die hiesige Hip-Hop-Szene muss sich nicht verstecken, hat sie doch in den vergangenen Jahren ein unvergleichbares Wachstum erlebt.
Doch ist sie jung – zu jung. Mit sehr wenigen Ausnahmen fehlen die Veteranen, von weiblichen oder offen lebenden homo-, inter-, transsexuellen Künstler ganz zu schweigen (wobei das mit Ausnahme der «Alten» ohnehin ein nationales Problem ist). Es fehlen Wortartisten, die nicht mehr bloss zu dicken Beats über Wodka und Generationenkonflikte performen. Sondern Identifikation und Lebenserfahrung vermitteln.
Umso mehr faszinieren «ältere, reifere» Persönlichkeiten. In Luzern gibt es das Unwort «Original»: Würde man dieses hier einem Rapper oder sonstigen Musiker zuordnen, würde der sich vor Wut in die eigene Faust beissen. Oder deine Faust abbeissen. Also lassen wir das.
Reden wir besser von Menschen, die keine blossen Musiker mehr sind. Sondern Gesichter einer Gesellschaft.
Skor wäre in Zürich wohl ein Paradebeispiel – die Langstrassen-Legende. Welcher mit «Und Nachteil» der «Durchbruch» gelungen ist, und die mit «Gang» einen tollen, wenngleich vergleichsweise vernachlässigten Nachfolger präsentiert hat.
Skor ist Mitglied von Temple of Speed, Temple of Speed sind ein nationaler Mix aus so talentierten wie etablierten Rappern – Baze, EKR, Stereo Luchs beispielsweise –, und Temple of Speed waren ursprünglich eingangs Absatz genannte Zürcher Lockenkopf, Sterneis und Tinguely Dä Chnächt.
Letzterer hat im Alter von 41 mit «Calvados» sein erst drittes Soloalbum veröffentlicht. Und ist der Grund für diesen ganzen Text, diese ganzen Gedankengänge. Denn «Calvados» ist ein Meisterwerk. Die Platte erzählt Geschichten, welche tiefe Einblicke in so viele Bereiche gewähren, dass zusammengerechnet mindestens ein Leben daraus entstehen könnte. «Stadtpoesie vom Stadtinventar», wie es Adrian Schräder zusammengefasst in seinem ausgezeichneten Artikel beim Tages-Anzeiger ausgedrückt hat.
Es geht um Drogen und Philosophie, den Tod und die Party, Beharrlichkeit und Bewegung. Tinguely rappt vom Leben auf der Strasse sowie der Arbeit im Kreis 4, er philosophiert über Kokain und den Veganer, der vom Löwen gefressen wird. Unterlegt mit grossartigen «Beats» – oder besser sphärischer, unglaublich spannend produzierter Musik vom grandiosen Chocolococolo. Chorparts, Gitarrensolo, Bläser:
Mit dem Wahlzürcher als Produzent kommen auch Musiker*innen wie Musu Meyer, Fai Baba oder Domi Chansorn zum Zuge, die den Songs weitere feine Elemente verleihen, welche einfach Lust machen, «Calvados» immer und immer wieder zu hören.
Wenn Tinguely erzählt, dass er täglich acht bis neun Stunden schreibt – oder geschrieben hat in seinem Wohnkämmerchen oberhalb der Calvados-Bar –, dann will man in den hier vorliegenden Text ebenso viele Worte und Zeit investieren. Doch ehe die Rezension, oder besser: das Essay überbordet, gilt festzuhalten: «Calvados» muss gehört und genossen werden.
Dies ist nicht mehr reiner Hip-Hop, sondern ein unglaublich gut gemachter interdisziplinärer Geschichtenreigen. Jenes Werk wird verstanden, wenn man sich mit ihm und seinem Umfeld befasst – befassen will! Genau das soll beste Musik machen und macht diese hier wie keine zweite. Gratulation aus Luzern. Da kriegt man glatt Lust, nach Zürich zu ziehen.
10/10
Stoph Ruckli