Annie Clark ist eine Wundertüte. Ein kreativer Kristall, geschliffen in einem Prozess aus Weltschmerz, Wahrheit und Wandelbarkeit. Mit «Masseduction» erreicht der Clark-Cosmos denn auch eine neue Klimax: Art-Pop, den alle  Popmusizierenden zu erreichen versuchen.

Unnahbarkeit: Das ist einer der Pfeiler, den Annie Clark im Verlaufe ihrer Karriere immer stärker verfolgte. Wenngleich die Musikerin omnipräsent ist, weiss eigentlich niemand so recht, wer sie denn ist – respektive sein wird. Und diesen Status zelebriert Clark regelrecht. Wer zuletzt ein Interview wünschte, wurde in unmöglichen Situationen wie beispielsweise einem pinken Holzkasten empfangen. Oder erhielt Video-/Texteinspieler mit vorgefertigten, schrägen Antworten auf tausendfach gestellte Wikipedia-Fragen.

Geheimnisse sind im Kosmos Clark – besser: St. Vincent-Universum – Gold wert.

Vieles wirkt inszeniert, was die Hauptakteurin auch offen zugibt, bezeichnet sie ihre Tätigkeiten doch gerne als Performance. Lediglich bei Gitarren wird St. Vincent zu Annie Clark: Über das eigens für sie entworfenes Ernie-Ball-Music-Man-Signature-Modell und ihr Saiten-Spiel plaudert sie offen sowie gern. Musikalisch geht das dann in einen Grenzbereich, irgendwo zwischen A und B. Singt Clark auf den Songs von «Masseduction» nun über sich oder jeden einzelnen Menschen ihrer Hörerschaft? Unabhängig des ganzen Alter-Ego-Theaters, das mindestens seit den Zeiten Bowies nach wie vor ungebrochen beliebt ist, erscheint diese Platte musikalisch so direkt und ehrlich, dass es eine Freude ist.

«Masseduction» ist jene Platte, die Lady Gaga in ihrer härtesten Art-Pop-Phase gerne gemacht hätte.

Auf der einen Seite sind die Songs catchy sowie kraftvoll («Pills»,«Sugarboy», «Young Lover»), auf der anderen überaus ehrlich und verletzlich («New York, «Happy Birthday, Johnny»). St. Vincent scheut sich nach wie vor nicht, ihre verschiedenen Stileinflüsse in ihre Songs zu packen. Die Musik strotzt vor Abwechslung, pendelt zwischen Elektro, Rock und Jazz. Zusammen mit Pop-Produzent Jack Antonoff (Lorde, Banks, Taylor Swift) sind die Stücke aber so geschliffen, dass sowohl Masse als auch Nerdentum auf ihre Kosten kommen: nahbar-unnahbar sozusagen. Eine der aktuell besten Platten des Jahres.

9/10

Stoph Ruckli