Da ist sie nun. Die neue Tool. Nach dreizehn bangen Jahren voller Hoffnung und Zweifel und Running Gags und unermesslichen Erwartungen. Heulen wir in Ekstase oder aus Enttäuschung?
Eines vorweg: Natürlich wurde nicht dreizehn Jahre lang daran gearbeitet. Seit „10’000 Days“ von 2006 kümmerten sich die Bandmitglieder um ihre Leben, andere Musikprojekte und Weinberge und bestiegen ab und zu in ihrer Freizeit gemeinsam die Bühnen. Erst vor etwa drei Jahren hörten wir ein Geraune über einen möglichen Studioaufenthalt.
Doch ist das für eine Beurteilung überhaupt wichtig? Interessanter ist eher die Frage, was mit Tool in 2019 anzufangen ist. Sie traten in der Blütezeit des Grunge ans Licht, liessen sich musikalisch aber nicht dazu zählen. Im Geiste schon, doch waren sie auch die Alternative zur Alternative. Sie kollaborierten mit den Melvins, Rage Against The Machine und Henry Rollins, coverten die Ramones und Led Zeppelin und schnappten sich den King Crimson Produzenten David Bottrill. Also immer mittendrin und doch daneben.
Jedes ihrer Alben ist unverkennbar Tool und doch hat jedes seinen eigenen Vibe. Vielleicht gerade weil sie soviel Zeit dazwischen verstreichen lassen. Ihre Originalität wanderte von Album zu Album mit, unaufhaltsam reifend wie das Alter der Musiker. Diese sind über 50 und längst in Leben ausserhalb der Musik angekommen. 2019 ein „Undertow“, „Aenima“ oder ein „Lateralus“ zu erwarten, wäre also vermessen. Wo und wie ist „Fear Inoculum“ nun zu verorten?
Auch wenn wir die „inner workings“ der Band nicht kennen: Die Kompositionen wirken eher penibelst konstruiert als organisch entstanden. Es mag daran liegen, dass die Instrumentalisten der Band die Songs schon weit entwickelt hatten, als sie der Sänger mit seinem Beitrag komplettierte.
Überpräsent ist Drummer Danny Carey. Es wirbelt und kübelt, dass sich Luftschlagzeuger/innen die Schultern ausrenken werden. Bassist Justin Chancellor und Gitarrist Adam Jones tun ihr Gewohntes, wobei sich Adam zu mehr Solos als auch schon hinreissen lässt. Sänger Maynard J Keenan hält sich vergleichsweise zurück. Zumindest in Sachen Lautstärke: Schon immer ein Sänger mit herausragender Stimmkontrolle, lässt er schierer Kraft Subtilität und Phrasierung mehr denn je den Vortritt.
Geblieben sind überlange Songs für eine Hörerschaft ohne ADHS, das Platinum Level des Mixes, das Gegenspiel von Zerrgitarre und Tablas. Geblieben ist auch der Kontrast von ausgeklügelter Progressive Rock Rhythmik zu der über- wenn nicht sogar durchschaubaren Tonalität des klassischen Rockriffings. Es scheint Tool’s Plan zu sein: Die Balance halten zwischen Verwirrung und Versöhnung, zwischen Abgedrehtheit und Anforderung einerseits und Zugänglichkeit andererseits für eine der platten Rockmusik übergeordneten Vereinnahmung. Offenbar wollen uns Tool in ihre Welt führen, dies aber mit einladend weit geöffneten Toren.
Nichtsdestotrotz bleibt ein leicht schaler Geschmack. Die Songs sind teilweise länger als nötig (oder der Schreiber leidet neuerdings unter ADHS…). Parts hängen sich an Parts und treten teilweise selbstvergessen auf der Stelle, was auch positiv als hypnotische Mantras betrachtet werden kann.
Einige Riffs und Strukturen klingen vertraut bis zum Selbstzitat. Klar, wer sich seinen Stil erschaffen und funktionierende Kniffe entdeckt hat, dem sei es mehr als erlaubt, sich bei sich selbst umzuschauen. Nur werden so jahrzehntelange Fans eher angenehm bedient als überrascht oder gar gefordert.
Für Neulinge jedoch ist „Fear Inoculum“ ein happiger Brocken, ein Monolith, der seinesgleichen sucht.
Insofern sind Tool 2019 nach wie vor eine herausragende und wichtige Band. Für Gitarrenvernarrte, die mehr wollen, als sich nur so laut, hart und unmittelbar unterhaltend wie möglich berocken zu lassen, ist „Fear Inoculum“ trotz allem Genörgel im Detail eine Offenbarung. Mehrmaliges Hören und/oder besonnenes Antasten Song für Song mit Verdauungspausen schadet sicherlich auch nicht.
Mantraprog 8/10
Marc Flury