So oft angekündigt, ist sie nach 16 Jahren da, die neue Platte von The Cure. Wird sie den Erwartungen gerecht? Oder ist sie eine enttäuschende Schablone von Altbekanntem wie es bei der ähnlich herausgezögerten Tool Platte geschah?

Ich muss erst ein wenig persönlich werden, um mein Urteil über die neue Platte richtig einordnen zu können. Ich habe The Cure 1984 entdeckt und dies gleichzeitig mit den Alben Three Imaginary Boys, Pornography, Japanese Whispers und The Top, die unterschiedlicher nicht sein konnten. Goth? Pop? Rock? Psychedelia? Depressiv? Fröhlich?

Für mich waren The Cure schon damals alles davon. Und persönlich mag ich die grummligen dunklen Songs wie „A Hundred Years“, „The Top“, „Prayers for Rain“, „End“, „The Promise“, „The Kiss“, „Want“, „39“ oder „At Night“, die aggressiven Rocker wie „Give Me It“, „Shiver & Shake“, „Cut“, „Shake Dog Shake“ oder „Primary“ und Popperlen wie „The Exploding Boy“, The End of the World“, „High“, „Trap“ oder „The 13th“. Doch wenn die Band in Heulern wie „One More Time“, „A Thousand Hours“, „Trust“ oder „The Last Days of Summer“ schwelgt, stellt sich bei mir ein leichtes Desinteresse ein.

Wo also sehe ich Songs Of A Lost World in ihrer enorme Diskografie? Nicht zu oft, aber doch immer wieder mal schippert sie in den mir weniger beliebten Gewässern von textlicher Melancholie und musikalischer Unaufgeregtheit. Ersteres ist aber mehr als nachvollziehbar, sind die Songs doch von einigen privaten Verlusten in Robert Smith’s Leben geprägt. Und eine seiner löblichen Charakterzüge ist seine Authentizität. Er hat uns nie was vorgemacht. Wenn er von Trauer und Reflexion singt, ist das echt und nicht durch ein strategisches Genre- oder Zielpublikumraster gewürgt.

Zweiteres, die musikalische Unaufgeregtheit, ist halt auch ein Zeichen von Reife. Die Musik wird textdienlich gehalten und versucht, vorgegebene Stimmungen einzufangen, ohne sich in instrumentalen Kapriolen zu gefallen. Eine Freude ist hierbei, das mittlerweile langjährige Bandmitglied Reeves Gabrels zum ersten Mal auf Platte zu hören. Im grösseren Rahmen geschah dies ja zuletzt in den 1990ern, als er noch mit David Bowie spielte. Bei The Cure hält er seinen unberechenbaren und innovativen Spielstil jedoch im Dienste der Musik ein wenig zurück.

Nun endlich zur Musik im Detail: Im Ersteindruck erschien sie mir wie ein drittes Album in einer Serie mit Disintegration und Bloodflowers. Doch es steckt nach dem siebten Durchhören viel mehr drin. Sie beginnt ganz zugänglich, schon recht erinnernd an Disintegration. Langsame Tempos, weite Klanglandschaften mit feiner Melodieführung. Die ersten drei Songs sind bekannt von der letzten Tour und bieten bis hierhin Novembermusik zu Tee und warmem Gebäck. Wunderschön, aber nicht gerade fordernd – für The Cure Verhältnisse natürlich.

In der Mitte des Albums lässt es sich aber aufhorchen. In „Warsong“ ist er wieder da, der „doom’n’gloom“, womit man die Band entgegen ihrem in gleichem Masse vorhandenen kurlig verschmitzten Humor so gerne verbindet. Aber gut, der ist hier tatsächlich kaum zu finden. „Drone: Nodrone“ folgt darauf und ist der einzige upbeat Song, der so auch auf die Alben Wild Mood Swings oder 4:13 passen täte. „All I Ever Am“ könnte von Wish sein. Hier zeigt sich wohl, dass die Songs über Jahre hinweg entstanden sind. Die letzte Platte 4:13 erschien schliesslich 2008!

Mein persönlicher Höhepunkt des Albums ist der abschliessende „Endsong“, der jeglichen Hauch von leichtester Kritik wegbläst. Zu Beginn geschieht gar nicht mal so Aussergewöhliches, doch diese plötzlich einsetzende, simple drei Noten Gitarrenfigur hebt das Stück unmittelbar meilenweit zu Himmel. Einmal mehr zwar beschwört Robert das Ende aller Dinge, aber 2024 wirkt das realer als die Romantisierung der Vergänglichkeit auf früheren Platten in jungen Jahren. Er bezieht den Albumtitel Songs Of A Lost World ja auf seine Kindheit. Auf die Welt, die damals so spannend war und sich doch sicherlich weiter und weiter so fortsetzen werde. Nun war dem nicht so, sah er mit 15 Jahren ein. Man kann – neben den klaren Bezügen zu seinen privaten Verlusten, sprich Tode in der Familie – diese 9 Songs auch als Résumé einer Band im gehobenen Alter sehen. Es seien ja noch zwei weitere, weniger dunkle Platten in naher Zukunft versprochen. Ich bin gespannt.

Doom’n’Gloom Poprock 8/10

Marc Flury