Was schreibt man über DAS Punk Album und eines der wichtigsten Alben aller Zeiten überhaupt? Sicher dass es ein Donnerschlag war, mitten in den trägen, selbstzufriedenen Teil der britischen Gesellschaft, der sich mit Tea und Biscuits in glorreicher Ordnung wähnte.
1977 befand sich das „moderne Britannien“ in einer geteilten Gesellschaft. Unüberwindbare Klassenzugehörigkeit war der Status Quo. Hier die upper class mit gutbürgerlichen Einkünften und dem Glauben an die Queen, die Flagge, Gesetz und Ordnung, da die lower class in blanker Armut, Arbeitslosigkeit und keiner Aussicht auf Veränderung.
Nach einer kleinen Unruhe Ende der 1960er Jahre, die sich aber nur in Grossstädten bemerkbar gemacht hatte und bald resonanzlos im intellektuellen Hippietum und in modischer Selbstdarstellung verpufft war, holte die Realität das Land wieder ein. Auch die revolutionäre Popmusik verlor ihre Rolle. Sie schwelgte erneut in banalen Bubblegum Refrains verpackt in lächerlichen Kostümen oder erneuert im abgehobenen, hochkomplexen Progressive Rock verpackt in lächerlichen Kostümen. Beides sagte der Jugend im Alltag in den grauen Vorstädten nichts. Sie fand darin weder Identität noch Antworten.
Einstige Hoffnungsträger wie die Beatles, die Who oder die Stones verschwandem im Nichts, im dekadenten Establishment oder im konzeptionellen Pomp. Auch wenn man The Who zugute halten muss, dass sie sich besonders mit „Quadrophenia“ im Jahre 1973 sich der Befindlichkeit der Jugend eloquent und expressiv annahmen. Leider waren The Who zu diesem Zeitpunkt in den Ohren der Angesprochenen schon zu entrückt und etabliert, um als Sprachrohr zu verfangen.
Vier Jungs aus London fanden eines Tages, dass drei Akkorde laut genug gespielt völlig ausreichen. Vier Jungs aus der Arbeiterschicht, die entweder in der Fabrik oder im Knast landen werden. Wenn Punk nun bedeutet, dass irgendwer „Fuck the Police!“ rumbrüllt, dann sind die Sex Pistols nicht Punk. Wenn Punk bedeutet, dass jemand seinen Weg jenseits des Klassensystems sucht und dabei mit offenem Geist die Zustände kommentiert und sich besonders die Tabus und ungeschriebenen Regeln zur Brust nimmt, dann sind die Sex Pistols Punk.
John Lydon sang über die Queen als Marionette der Faschisten, über Abtreibung und Selbstbestimmung, über tumbe Strandferien, über Wut und Frust überhaupt. Dies mit allem verfügbaren Rotz und nicht zuletzt im Kontrast dazu mit unerhörtem Schalk. Das Establishment drehte durch, die Medien konnten ihr Glück kaum fassen. Alle überschlugen und -trafen sich mit Halbwahrheiten und die Plattenlabels rissen sich um die Band, um dann doch einen Rückzieher zu machen. Bis Richard Branson seine Chance sah, sein zwar aufstrebendes aber schrecklich unhippes Label „Virgin Records“ mit dieser Skandalband gross zu machen.
So also „Never Mind the Bollocks“. Die einzige reguläre Platte der Sex Pistols, erschienen im Oktober 1977. Kurz gesagt: Eine Band aus der Gosse an die Chartspitze in nullkommanichts. Zu dieser Zeit war der Bassist und Mitkomponist einiger der Songs Glen Matlock bereits geschasst. Weil er zu gut war. Oder weil er ein „Musiker“ war. Ersetzt wurde er durch Sid Vicious, der auf den Fotos besser – sprich „punk“ – aussah, aber auf der Platte gar nicht spielte. Ob durch dessen temporäre oder permanente Inkompetenz, der Gitarrist Steve Jones übernahm den Job.
Was eine gute Entscheidung war. Denn nebst all der soziokulturellen Wichtigkeit muss man der Platte als allererstes attestieren: Sie ist saugut! Die Songs sind allesamt Klassiker. Lydons Texte sind poetisch, bildhaft und auf den Punkt. Weniger die Texte schockierten das konservative Establishment, sondern dessen eigene oberflächliche Wahrnehmung der Band. Denn wer sich mal entrüstet hat, hört nicht mehr zu. Die Band – sprich Steve Jones und Paul Cook – spielen tight und erfrischend dynamisch. Ja das ist Punkrock, aber Dilettantismus ist hier nicht zu hören. Die 11 Songs ballern trotz ihrer strukturellen Einfachheit mit raffinierten Details, wie es talentierte Songwriter auszeichnet. Und das in bester Ohrwurm Manier. „Bodies“, „God Save the Queen“, „Anarchy in the UK“, „Pretty Vacant“…, einmal gehört, vergisst man diese Songs nicht. Man darf sie getrost als Hymnen bezeichnen, welche die Jahrzehnte bis heute locker überdauert haben.
Es sei noch verwiesen auf die aktuelle Miniserie „Pistol“ von Danny Boyle. Hoch unterhaltsam und bei aller Dramatisierung wahrscheinlich einigermassen zutreffend. Auch wenn John Lydon das anders sieht. Noch mehr empfohlen ist aber der Dokumentarfilm „The Filth And The Fury“ aus dem Jahr 2000 von Julien Temple. Everything you always wanted to know about Punk but were to busy to ask. Über seine alte und unsägliche Doku „The Great Rock’n’Roll Swindle“ breiten wir den Mantel des Vergessens.
Marc Flury