Im Spanischen bezeichnet das Wort «Madrugada» die morgendliche blaue Stunde, also den Moment kurz vor Tagesanbruch, wenn die Sonne erste zaghafte Farben an den Horizont zaubert. Ein Bild, das die Stimmung von «Chimes At Midnight» ganz gut zu beschreiben vermag.
Im Juli 2007 steckten Madrugada mitten in den Aufnahmen zum selbstbetitelten Nachfolger von «The Deep End», als Gitarrist und Gründungsmitglied Robert Burås tot in seiner Wohnung aufgefunden wurde. Das Album wurde zwar noch veröffentlicht, doch dann war Schluss. Verständlich. Die Norweger verloren nicht nur einen Freund, sondern auch einen begnadeten Gitarristen und Songschreiber. In der Folge veröffentlichte Sänger Sivert Høyem mehrere wunderbare Soloplatten und die Geschichte von Madrugada schien ein Ende gefunden zu haben.
Doch dann kündigte die Band im Juni 2018 anlässlich des 20-jährigen Jubiläums von «Industrial Silence» für Februar 2019 zwei Konzerte in Oslo an, denen eine umfangreiche Comeback-Tour durch Europa folgte. Dabei wurde den Musikern bewusst, dass sie nicht ewig weiter auf der Nostalgiewelle surfen wollen. So entstand «Chimes At Midnight» und bei diesem ist zunächst alles wunderbar. Wenn Sivert Høyem im Opener mit seiner einzigartigen Gänsehautstimme «Nobody lovesyou like I do» in die blaue Stunde schmettert, dann nehmen wir ihm das sofort ab. Und nun warten wir: Warten auf die Ausbrüche, welche Madrugada einst nebst den ruhig-melancholischen Tönen so sehr auszeichnete. Wir warten vergeblich.
Das Album ist geprägt von mehrheitlich balladesken oft mit reichlich Pathos angereicherten Songs, die eine wohlig-melancholische Kerzenscheinrotweinatmosphäre schaffen. Das ist schön. Ja, wirklich! Nur leider auf Albumlänge auch ein bisschen einschläfernd (das liegt nicht nur am Rotwein). Vielleicht macht sich hier das Fehlen von Robert Burås bemerkbar, vielleicht sind es die 14 Jahre, die seit dem letzten Album vergangen sind. Wohlverstanden: das hier ist Jammern auf hohem Niveau. Denn Perlen wie der Opener, «Dreams At Midnight» oder «The World Could be Falling Down» schimmern wie die ersten Sonnenstrahlen zur blauen Stunde. Und wir schenken uns ein letztes Mal nach.
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7/10
Kaspar Hunziker