Vor 40 Jahren erschien «Unknown Pleasures» von Joy Division. Es enthält weder Joy noch Pleasures im herkömmlichen Sinn. Doch wer sich durch seine Dunkelheit tastet, wird auf Schönheit und Eleganz stossen. Aber auch eine Dringlichkeit und Verzweiflung, wie sie nur ganz selten in einem Aufnahmestudio eingefangen werden kann.

Denn Joy Division hatten zwar ihre Idole, waren aber bereit, diese umzulegen. Velvet Underground minus den Glamour, CAN minus das Akademische, Sex Pistols minus den kalkulierten Skandal: Durch diese Rechnungen gehen Joy Division in ihrem Debütalbum auf und schaffen dabei eine völlig neue Gleichung im Post-Punk, welche unzähligen, unzähligen Acts als Vorlage für das eigene Werk dienen würde – von The Cure bis zu The Killers. Denn der Schmerz in Frontmann Ian Curtis tönte hier so laut, dass er noch immer als Echo nachklingt – erst recht für so eine gedoomte Generation wie heute.

Kennen Sie überhaupt Doomer? Bestimmt. Sie sitzen im Bus und am Bahnhof, spazieren am Seeufer oder durch die Innenstadt. Und sie verbringen besonders viel Zeit – so wie alle von uns in den vergangenen Monaten – zu Hause im kalten Schein eines Computerscreens. Eigentlich waren sie mal Zoomer, also jene Generation Z zwischen 1997 und 2012. Doch sie sehen einen Planeten, der inzwischen wie eine Baked Potatoe unter der Sonne dampft und dadurch zunehmend ungeniessbarer wird.

Sie erleben ein Internet, das uns einst den Fortschritt bringen sollte und jetzt scheinbar nur noch dazu da ist, um einander in die Eier zu treten ohne sich dabei ins Gesicht sehen zu müssen. Doomer haben die Versprechen des Kapitalismus durchgerechnet und bemerkt, dass für sie nichts dabei rausspringt. Denn plötzlich kostet es extra, wenn in ihrem Videogame die Spielfigur eine rote Jacke tragen möchte. Dafür kostet eine rote Jacke in echt inzwischen fast nichts mehr, weil die Näherinnen in Indien für ihre Arbeit in alten Fingerhüten bezahlt werden.

Doomer gehen am Freitag nicht fürs Klima auf die Strasse, denn sie haben aufgegeben. Sie wissen, dass sie unsere Erde lediglich noch ins Grab tragen werden und zucken dabei noch etwas beschwingt mit den Schultern, so wie es diese Sargtänzer aus Ghana tun. Doomer sehen sich als das letzte Kapitel einer Geschichte, die 200’000 Jahre gedauert hat und damit endet, dass wir uns erst eine App herunterladen müssen, um auf ein Trottinett zu stehen.

Müsste man den Doomer von heute in einem Land von damals verorten, es wäre England im Jahr 1979. Der deutsche Spiegel titelte damals in einer Februar-Ausgabe über «Das kranke England» und schrieb von «Resignation und die heimliche Sehnsucht zum Leid befallen die Bürger der Insel regelmässig». Die einstige Kolonialmacht war wieder zur grauen Insel zusammengeschrumpft, als Weltreich existierte es höchstens noch in den Köpfen einiger weniger Ledersessellords. Der Rest vom Land streikte, randalierte und trübsalte zwischen roten Backsteingebäuden und schwarzen Schornsteinen in Städten wie Stockport bei Manchester.

In dieser Stadt und in diesem Jahr nahmen vier Männer den definitiven Soundtrack zu jenen Tagen auf – 18 Jahre, bevor der erste Doomer überhaupt Fuss in die Welt setzte und diesem trotzdem heute sonor aus dem Herzen singen dürfte.

Michael Rechsteiner