Unsere Crew macht sich wie jedes Jahr auf die Suche nach den besten Alben. Kaspar Hunziker startet mit einem vielfältigen Mix. Ob Kettcars‘ kluge Sozialkritik, Bright Eyes‘ emotionaler Indie-Folk oder die epische Debütplatte von The Last Dinner Party – hier treffen lyrische Tiefgänge auf musikalische Höhenflüge. Dazu gibt es James in Bestform und Arab Strap mit ihrem kritischen Blick auf die Smartphone-Gesellschaft. Diese Liste ist kein Ranking, sondern ein Statement. Wer hören will, worüber 2024 gesprochen wird, fängt hier an.
KETTCAR – Gute Laune ungerecht verteilt
Nach sieben Jahren melden sich Kettcar wortgewaltig zurück und halten uns mal konkret, mal subtil den Spiegel vor. Alltagsrassismus, Cancel Culture, Freuden und Leiden des Elternseins oder die sich immer weiter öffnende Schere zwischen arm und reich: einfach machen es uns Kettcar nicht und dann und wann werden beim Hören die eigenen Unzulänglichkeiten schonungslos offengelegt. Trotzdem versinkt das Album zwischen Postpunk und Pop nie in Hoffnungslosigkeit. Es ist ein Album, wie es wichtiger nicht sein könnte, in Zeiten in denen gewisse Entwicklungen komplett aus dem Ruder laufen.
BRIGHT EYES – Five Dice All Threes
Das elfte Studioalbum der Band aus Nebraska trägt den Titel eines Würfelspiels und ja, das Leben ist des Öfteren ein Glücksspiel. Nicht immer fielen die Würfel zugunsten von Conor Oberst und wer den Sänger beim letzten Zürcher Konzert im August 2022 in seiner ganzen Fragilität erlebte, könnte durchaus an einer Fortsetzung der Karriere gezweifelt haben. Die Zweifel sind spätestens jetzt zerstreut: «Five Dice All Threes» ist ein chaotischer, manchmal verwirrender Ritt durch alle erdenklichen Ausprägungen von Indie-Folk, hinein in die kauzige Welt von Conor Oberst und seinen beiden Mitstreitern. Dazu gibt es feine Gastauftritte von Matt Berninger (The National), Cat Power und Alex Orange Drink (The So So Glos).
JAMES – Yummy
James erlangten in ihrer über 40-jährigen Karriere nie die gleiche Aufmerksamkeit wie andere Manchester-Bands, obschon auch sie Bühnenprügeleien beherrschten. Trotzdem bleiben sie relevant: mit regelmäßigen Veröffentlichungen auf konstant hohem Niveau und Konzerten vor einer treuen Fangemeinde. «Yummy» ist ihr 18. Studioalbum – und eines der besten, vielleicht sogar der gesamten Karriere. Mit einer Verschmelzung von organischem Future-Rock, Gospel-Folk und einlullendem Elektro-Pop erfüllt es die hohen atmosphärischen Ansprüche der Band. Selbst die stellenweise unbeholfen wirkenden Lyrics schmälern den Gesamteindruck nicht.
THE LAST DINNER PARTY – Prelude To Ecstasy
Die Erwartungen an den Erstling der Londonerinnen waren fast unerfüllbar hoch, doch sie wurden erfüllt. Und wie! «PreludeTo Ecstasy» beginnt mit einem orchestralen Auftakt, bei dem die Protagonistinnen die Bühne betreten. Was bei anderen ein Intro wäre, ist in dem Fall ein Epos für sich, welches das ungewöhnliche Talent der fünf Ladies aufzeigt. Sie verschmelzen die unterschiedlichsten musikalischen Einflüsse zu einem bittersüssen Musiktheater mit Hang zum Exzess, ohne irgendwelche Kitschgrenzen zu überschreiten. Definitiv eines der eindrücklichsten Debuts der letzten Zeit. Bleibt eigentlich nur die Frage, wie das Quintett dieses Werk noch toppen will.
Arab Strap – I’m totally fine with it👍don’t give a fuck anymore👍
You take all my time, you take all my strength, you steal my love, you are the worst friend I ever had. Den Text zu Sociometer Blues hätte Aidan Moffat wohl schon Ende der 90er genauso schreiben können. Nur dass es damals um verzweifelte, im Suff ertränkte Liebe ging und nicht wie hier um die dysfunktionale Beziehung zum Smartphone. Auf dem zweiten Post-Comeback-Album entpuppen sich die Schotten als scharfsinnige Beobachter des menschlichen Verhaltens (und Versagens) im digitalen Zeitalter. Im Gegensatz zu den düsteren Bildern, die sie dabei zeichnen, ist der Sound ungewohnt hell und poppig. Arab Strap haben sich von schwärmerischen Slowcore-Romantikern zu kritischen Indiepop-Chronisten entwickelt.