Nach einer 30jährigen Karriere entschloss sich Beth Gibbons zu ihrem ersten Soloalbum. Wer eine Neuauflage von Portishead erwartet, wird enttäuscht aber auch angenehm überrascht.
Manche erinnern sich: Mitten in der Blütezeit des Alternative Rock, Hiphop und einer neuen Welle elektronischer Musik stand 1994 wie aus dem Nichts dieses Phänomen im Raum. „Dummy“ von Portishead war das neueste und heisseste Ding, und die Musikwelt stand Kopf. Ein Konsensalbum, das sich nirgends zuordnen ließ, allen gefiel und somit als Begründer einer neuen Musikform – „Trip-Hop“ – erachtet wurde.
Nach Portishead zog sie sich etwas zurück, abgesehen von Kollaborationen mit Paul Webb von Talk Talk auf dem 2002er Album „Out of Season“ oder Gonga, mit denen sie eine brillante Coverversion von „Black Sabbath“ erschuf, und natürlich ihre Interpretation von Góreckis dritter Sinfonie mit dem Polnischen Radioorchester.
Die Verbindung zu Talk Talk zieht sich durch ihre gesamte Karriere und ist auch auf „Lives Outgrown“ präsent. Mit deren Drummer Lee Harris und dem Multiinstrumentalisten James Ford liefert sie eine großartige Platte ab. Introspektiv, leicht folkig, durchwegs atmosphärisch und trotz oder wegen aller kontrollierten Ruhe fesselnd. Denn dies ist keineswegs gefällige Hintergrundmusik. Diese Fiebrigkeit und lauernde, gerade noch im Zaum gehaltene Intensität von Portishead ist auch hier jederzeit zu spüren.
Über die Texte wurde schon einiges berichtet: Schwermut, Verzweiflung, Desillusion … doch so schlimm ist es nicht. Bei näherer Auseinandersetzung mit den Lyrics erscheint Beth nur als nüchterne Betrachterin und Berichterstatterin über die weniger erfreulichen Dinge. Und dann steht vor allem anderen Wahrhaftigkeit im Raum. Was tun bei all den „Burden of Life“? Kopf hoch und das wirklich Wichtige erkennen und leben. „Lives Outgrown“ ist eine Art Kammermusik, die einen innehalten und – hoffentlich – erstarkt weiterziehen lässt.
Kammerfolk 10/10
Marc Flury